Montag, 20. August 2012

Der kleine Sperling


Der kleine Sperling flog hoch über das gelbe Sonnenblumenfeld hinweg. Gleichgültig schaute er einer Feder hinterher, die sich eben erst aus seinem Federkleid gelöst hatte. Es war nicht die erste, die der Vogel verlor.
Die Feder schwebte gleichmäßig dahin. Über dem goldenen Reichtum der Sonnenblumen schien sie still zu stehen.
Der kleine Spatz sah wie die Feder ohne jeden Schwung über den Sonnenblumen mitten im Himmel hing. Eigentlich wollte er nach Insekten jagen. Doch er war schon satt. Deshalb beschloss er, lieber nachzuschauen, wohin die Feder wohl flog. „Na warte“, piepste er. „Ich hol dich wieder ein!“
Wie ein Pfeil schoss er in die Richtung der schwebenden Feder. Doch dort war sie nicht mehr. „Nanu?“, wunderte sich der Vogel. Als hätte die Feder seine Absicht erkannt, ließ sie sich vom Wind höher und höher blasen und war jetzt hoch oben über dem Spatz direkt unter den Wolken.  Der Sperling konnte die Feder gar nicht mehr richtig erkennen. Die Sonne blendete ihn. Darum verfehlte er sie wieder. Noch ein paarmal versuchte er, die Feder zu erhaschen. Doch dann gab er auf. Er war müde geworden und hatte keine Lust mehr auf dieses Spiel. Stattdessen flog der kleine Spatz hinunter auf die Erde und beschloss ein schönes Sandbad zu nehmen. Ein wenig versteckt hinter dem Sonnenblumenfeld suchte er sich eine geeignete Stelle aus und häufte mit seinem Schnabel lockere Erde an. „Ach ist das schön!“, freute er sich und hüpfte direkt hinein in den frisch geschaufelten Sand. Er wälzte und drehte sich und spürte die Körner in seinem Gefieder. So fühlte er sich wohl! Doch so versteckt wie der kleine Sperling glaubte, war das Plätzchen nicht. Denn eine Katze trieb sich dort herum. Auf leisen Pfoten schlich sie sich heran. Plötzlich verhüllte sie die Sonne und warf ihren Schatten auf den Spatz. Erschrocken schaute der kleine Vogel auf, direkt in die glühenden Katzenaugen. „Huch“, piepste er und wollte flugs mit den Flügeln schlagen, um sich aus dem Staub zu machen. Doch eben dieser Staub verhinderte jetzt, dass er sich ganz schnell in die Luft erheben konnte. Schwer hingen die Flügel herab. Der kleine Sperling musste erst mehrmals heftig mit den Flügeln schlagen, um die kleinen Sandkörner abzuschütteln, die jetzt wie Regentropfen auf ihn herabrieselten. Eine  dichte Staubwolke umhüllte den Spatz. Die Katze war schon im Sprung. Doch wegen dem aufgewirbelten Staub bekam sie einen tüchtigen Niesanfall.  „Hatschi, hatschi!“, nieste sie und verfehlte den kleinen Spatz.
Das war knapp. Der Sperling schüttelte sich noch einmal und flüchtete blitzschnell in die Luft. Dort verspottete er die Katze: „Ätsch, bätsch, du kriegst mich nicht!“
Enttäuscht wandte sich die Katze ab und suchte anderswo nach Futter. Doch der Spatz flog weiter quer über den Himmel und freute sich über den strahlenden Sonnenschein.  

Freitag, 17. August 2012

Der Jammerlappen


Jan ist ein süßes Kleinkind mit Pausbäckchen, Grübchen in den Wangen und einem dreieckigen Kinn. Mit seinen knuffigen Patschhändchen langt er nach seiner Tasse. Er verfehlt sie knapp, der Plastikbecher rutscht von der Kante und das Wasser ergießt sich über Jan. Der kleine Kerl erschrickt, schnappt nach Luft und fängt sofort empört das Schreien an.
Die Mama rennt herbei, nimmt ihr Baby auf und tröstet es. „Ist nicht schlimm, ist ja nur Wasser!“

Doch Jan findet es schlimm. „Wasser böse!“, protestiert er lautstark. „Nein“, widerspricht die Mama. „Das Wasser ist nicht böse. Du hast die Tasse umgestoßen. Aber es ist ja nichts passiert.“

Allmählich beruhigt sich Jan wieder. Die Mama setzt ihn auf den Boden. Dort robbt er zu seiner Spielkiste. Bevor er nach seinem Lieblingsspielzeug greifen kann, rutscht er aus und schlägt mit dem Kopf auf die Kante der Spielkiste. Noch ehe Jan begreift was passiert ist, läuft eine klebrige, rote Flüssigkeit über seine Stirn in seine Augen. Zur Vorsicht brüllt Jan aus Leibeskräften. Er kennt das ja nicht. Der Schmerz wäre noch zu ertragen, aber dieses rote Zeugs soll sofort verschwinden.

Besorgt kommt die Mama an. Sie hat einen nassen Waschlappen dabei und tupft ihm vorsichtig die rote Flüssigkeit aus dem Gesicht. Dann legt sie ihm einen anderen Waschlappen auf die Stirn. „Damit du keine Beule bekommst“, erklärt sie ihm.

Aber Jan hört sie kaum, denn er ist immer noch mit Schreien beschäftigt. Nach einer Weile wird das langweilig und er hört damit auf.
Zeit wieder auf Erkundungstour zu gehen. Diesmal entschließt er sich, ein paar Schritte zu laufen. Das hat er gerade erst gelernt. Deshalb probiert er es wieder.  Er hält sich am Tisch fest und läuft darum herum. Das macht Spaß. Er läuft wieder herum und noch einmal. Dann wird er langsam mutig. Er lässt den Tisch los und tappst auf unsicheren Beinchen durch das Zimmer. Ein Schritt, noch einer und noch einer. Dann plumps, sitzt er auf seinem Hintern. Das dicke Windelpaket sorgt dafür, dass er weich fällt. Trotzdem fängt Jan an zu schreien, als wäre er aus zehn Metern Höhe auf hartes Pflaster gefallen. Diesmal tröstet ihn die Mutter nicht. „Stell dich nicht so an.“, meint sie nur. „Wer fällt, muss auch wieder aufstehen!“

Für Jan ist das ein Grund noch mehr zu schreien. Er schreit und schreit. Dabei bleibt er auf dem Boden liegen. Aufstehen will er auch nicht. Er schreit solange bis er eingeschlafen ist.  

Im Traum steht auf einmal eine Puppe vor ihm, die ein Kleid aus lauter Lappen trägt. „Wer bist du denn?“, fragt Jan verwundert. „Ich bin der Jammerlappen“, antwortet die Puppe.
„Komischer Name“, sagt Jan und reibt mürrisch seine Nase, die ihm jetzt weh tut, weil er darauf liegt. Er schaut sich die Puppe genauer an. Sie hat ein wirklich sonderbares Kleid an. So ein Kleid hat Jan noch nie gesehen. Die einzelnen Teile sehen aus wie Spüllappen. Solche Lappen kennt Jan schon, weil die Mama sie zum Spülen verwendet. „Ja schau mich nur an“, sagt der Jammerlappen. „Immer wenn du jammerst und schreist, bekomme ich einen neuen Lappen. Aber der ist nicht schön, sondern nass und voller Tränen.“ „Wieso denn das?“, wunderte sich Jan. „Na, einer muss doch deine Tränen aufsaugen, sonst sind die überall und irgendjemand könnte in den Pfützen ausrutschen.“ Das leuchtete Jan ein. „Ach so.“, sagte er bloß. „Du schaust wirklich komisch aus.“, stellte Jan fest.

 „Dann tu was dagegen.“, forderte ihn der Jammerlappen auf. „Aber was?“, Jan fing an zu heulen. „Ich bin doch nur ein kleines Baby, das gar nichts tun kann.“

„Doch“, widerspricht ihm da der Jammerlappen. „Du kannst mit deinem Geschrei aufhören. Schreien nützt niemanden was. Es macht nur traurig. Deshalb sei lieber fröhlich. Dadurch wird mein Kleid wieder schön.“ „Ehrlich?“, wundert sich Jan. „Ehrlich!“, bekräftigt da der Jammerlappen. 

Wenig später wacht Jan auf, seine Puppe hält er im Arm. Das Jammerkleid war verschwunden, stattdessen hat die Puppe ein wunderschönes Kleid an, noch ein wenig nass von Jans Tränen aber trotzdem wunderschön und keinesfalls aus Lumpen. Nein, stellt Jan da fest, einen Jammerlappen braucht wirklich niemand.